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Seymour, Lepper 

Vaba Lava, Tallinn, Estland

"ich hätte auch einen Jungen lieber der gute Noten hat und alles wenns mir auch das Herz brechen würde meinen so mir nichts dir nichts wegzugeben wie einen alten Schuh"

Fünf übergewichtige Kinder, weggeschickt von ihren Eltern, alleine in einem Diät-Sanatorium hoch oben in den Bergen. Nur wenn sie ausreichend Gewicht verlieren und sich damit wieder für ein Leben im Flachland qualifizieren, haben sie vielleicht eine Chance, zurück nach Hause gelassen zu werden. Das ist die Situation, in der sich der elfjährige Sanatoriums Neuzugang Leo wiederfindet. Solange er nicht abgenommen hat, muss er das heimatliche Kinderzimmer an seinen englischen Cousin Seymour abtreten, der nicht nur viel dünner, sondern auch noch viel besser in der Schule ist. Alle Hoffnungen der Kinder richten sich auf die Ankunft des mysteriösen Doktor Bärfuss. Nur das strikte Befolgen der in seinem Namen ausgegebenen Kur-Regeln scheint der Weg zum erhofften Gewichtsverlust und damit das Ticket nach Hause zu sein.

Mit fortschreitender Handlung aber wachsen die Zweifel am Erfolg der Unternehmung, nicht nur beim Publikum, sondern auch bei den Sanatoriums Bewohnern selbst - kein einziger Patient scheint wirklich Gewicht zu verlieren, die Eltern hören nach und nach auf anzurufen oder Schokoladenkuchen zu schicken und Doktor Bärfuss bleibt bis auf weiteres unauffindbar. War es am Ende etwa gar nicht er, der die Regeln aufgestellt hat? Waren es vielleicht sogar die Kinder selbst, um so die Hoffnung am Leben zu erhalten? Der verlassene Ort in den Bergen erinnert zunehmend weniger an ein Kurzzeit Diät-Camp, sondern entpuppt sich mehr und mehr als ein Endlager für jene, die nicht effektiv genug, nicht fit, nicht gut genug sind für ein Leben im Flachland.

Seymour ist eine bizarre und tragikomische Parabel auf eine Gesellschaft, die von ökonomischen Fortschrittsglauben und Optimierungswahn besessen ist. Hier gibt es keinen Raum mehr für Liebe oder Fehler - weder für die Kinder, noch für deren Eltern. Die Insassen des Bärfussschen Sanatoriums werden als hoffnungslose Fälle angesehen, die zu viel Mühe bedürfen, als dass sie dem je gerecht werden könnten. Ausfallerscheinungen, die aussortiert und ersetzt werden müssen. Anne Leppers Text spielt mit unserer Angst, nicht gut genug zu sein. Diese dicken Kinder, mit denen wir auf den ersten Blick wenig gemeinsam haben, sind unsere fleischgewordene Furcht zu scheitern und verstoßen zu werden. In ihrer tollpatschigen Naivität und Hoffnung erinnern sie uns an uns selbst.

Anne Leppers Figuren quälen sich selbst und einander, obwohl sie eigentlich wissen müssten, dass all ihre Bemühungen niemals zu dem erhofften Resultat führen werden, dass sie niemals wieder nach Hause zurück kommen werden. Sie machen einander das Leben zur Hölle, treten einander nieder, aus Angst, selbst unter die Räder zu kommen. Mit eiserner Beharrlichkeit wiederholen die Kleinen mantraartig die Lehrsätze des Dr. Bärfuss, ermahnen einander, überwachen sich regelrecht, ohne akzeptieren zu können , dass ein jeder von ihnen so hoffnungslos ist, wie sein Gegenüber. Sie spüren, dass es ihnen unmöglich ist, Gewicht zu verlieren, aber selbst wenn sie es schaffen sollten, niemand würde sich dafür interessieren.

Nur ein einziges Mal bekommen die Kinder Dr. Bärfuss zu Gesicht. Der ist aber nicht auf dem Weg zu ihnen, sondern auf der Flucht vor der Polizei. Auf Skiern in einem gelben Skianzug braust er den Berg herunter und überlässt die Kinder dort ihrem Schicksal - mit einer grausamen Gewissheit. Und wenn dann doch letztendlich das längst vergessene Münztelefon an der Wand zu klingeln beginnt und die Eltern anrufen, dann ist es nur, um zu sagen, dass die Kinder bitte dort bleiben sollen, wo sie sind - ohne wütend zu werden, versteht sich.

Mit: Lauri Kaldoja, Martin Kõiv, Roland Laos, Liisa Pulk, Kristo Viiding, Maris Liloson, Siim Selis

Regie: Andreas Merz Raykov

Bühne und Kostüme: Jelena Nagorni

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